Vortrag von Wolf Biermann in Israel - Artikel aus "DIE ZEIT"
DIE ZEIT
Deutschland verrät Israel
Wir verkennen die Tragik des Nahostkonflikts und sympathisieren
in vormundschaftlicher Verachtung mit radikalen Moslems. Eine
Gastvorlesung in Jerusalem und Haifa.
Von Wolf Biermann
Dieses Fragment eines deutschen Sittenbildes könnte für euch,
liebe Freunde hier im Nahen Osten, von Interesse sein: Es gibt
hauptsächlich im Westteil des wiedervereinigten Deutschland seit
zehn Jahren die Initiative eines Aktionskünstlers, Gunter Demnig.
Das schön mehrdeutige deutsche Wort »Stolperstein« inspirierte
ihn dazu, handflächengroße Messingplatten wie
Straßenpflastersteine in die Bürgersteige einzulassen. Darauf
eingestanzt sind Geburtsdatum und Name sowie Datum der
Verschleppung eines Menschen, der einmal in jener Straße gewohnt
hat. Diese »Stolpersteine« erinnern in der Regel an ermordete
Juden, aber es gibt wohl auch einige für Sinti und Roma, für
Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle. In meiner
Vaterstadt Hamburg liegen schon über tausend Stolpersteine, man
könnte sagen: Sie bilden in ihrer Gesamtheit ein dezentrales
Großdenkmal.
Ich selbst müßte zwanzig solcher Steine für meine ermordete
Familie bestellen, aber meine Frau Pamela und ich zögern, weil der
Gedanke uns wehtut, daß die Nachgeborenen nun die Namen
meiner Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen mit Füßen
treten. Folgende Straßenszene ist dieser Tage in Hamburg in der
gutbürgerlichen Isestraße passiert. Zwei junge Frauen knieten vor
fünfen solcher Steine, polierten die stumpf gewordene Oberfläche.
Mein Freund, ein Israeli, der hier in Hamburg lebt, war neben den
beiden außergewöhnlichen Putzfrauen stehengeblieben. Er
entzifferte die eingravierten Namen. In diesem Moment kam ein
etwa fünfzig Jahre alter Mann vorbei. Auch der blieb stehn und
sagte nun, im ehemaligen Judenviertel der Hansestadt Hamburg,
den Hammersatz: »Na, diese fünf Juden können jetzt wenigstens
nicht mehr im Libanon die Araber ermorden« sagte es und ging
gelassen weiter.
Liebe Freunde hier in Erez Israel! Der vielleicht deutscheste aller
deutschen Dichter, Friedrich Hölderlin, schrieb seiner Ode An die
Deutschen: »Spottet nimmer des Kindes, wenn noch das alberne /
Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt, / O ihr Guten!
auch wir sind / Tatenarm und gedankenvoll!« Tatenarm war das
deutsche Volk unter seinem vergotteten Führer Adolf Hitler gewiß
nicht mehr. Gedankenvoll waren die Deutschen in den Zeiten des
Zweiten Weltkrieges und des Völkermords auch nicht. Aber die Welt
hat sich wild gedreht. Inzwischen ist der Vers wieder halb richtig.
Herausragend gedankenvoll sind wir Deutschen nicht mehr, aber
tatenarm das sind wir wieder geworden. Scham über ihre Untaten
hat die Deutschen nach 1945 in mürrische Ängstlichkeit gelockt. Sie
wollen als Volk nicht erwachsen werden. In bezug auf die globalen
Konflikte, etwa den Krieg zwischen Israel und seinen Todfeinden,
sitzen die Deutschen tatenarm auf dem Schaukelpferd der
Weltgeschichte.
Rein ökonomisch ist das wiedervereinigte Deutschland ein
erwachsener erfolgreicher Mann, militärisch ein halbstarker
Schwächling, der sich als Sanitäter und Aufbauhelfer in
Krisenregionen schicken läßt. Aber weltpolitisch wollen die Kinder
der Nazigeneration partout nicht runter vom Schaukelpferd einer
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Dieses Sich-aus-allem-
Heraushalten, diese scheuschlaue, lebensdumme Tatenlosigkeit im
Streit der Welt ist in der praktischen Auswirkung ein Tun, will
sagen: folgenschweres Lassen.
Aus meiner Sicht war es ein Fehler, daß Deutschland sich im Jahre
2003 nicht auf die Seite der Amerikaner und Engländer gestellt hat
im Streit um den Irak. Ich bin sogar der Meinung, daß der
französische Präsident Chirac und sein kleiner deutscher Kumpel,
der falsche Pazifist und Bundeskanzler Schröder, eine große
Mitschuld am Irakkrieg der Amerikaner und Briten gegen das
Terror-Regime von Saddam Hussein haben. Der Krieg vor drei
Jahren hätte womöglich vermieden werden können, weil der
Diktator abgetreten wäre, hätte der Westen mit einer Zunge
gesprochen, mit einer Faust gedroht. Ja, ich denke, daß die
Deutschen und die Franzosen schuld am Schicksal dieses
Monumental-Lumpen sind. Weil sie durch ihre Appeasement-Politik
Saddam Hussein suggerierten, er käme mal wieder elegant davon
mit seinen totalitären Tricks, blieb der Diktator stur. Saddam
rechnete nicht damit, daß Bush und Blair so naiv sein würden und
einen Krieg wagen ohne ihre wichtigsten Verbündeten Chirac und
Schröder. Seine Phantasie reichte nicht aus, sich vorzustellen, daß
er aus seinen parfümierten Kitschpalästen in ein stinkendes
Dreckloch, dann in einen Eisenkäfig vor Gericht und an den Galgen
geraten könnte.
Über all diese Fragen streite ich mich hier in Israel gelegentlich mit
Freunden. Ich lebe auch sehr angenehm mit kritischen Freunden
umgürtet in meiner Vaterstadt Hamburg. Aber zum Vaterland wurde
mir in den letzten Jahren immer mehr dieses fremdvertraute
Israel. Besonders die westeuropäisch orientierten, die
aschkenasischen Israelis sind immer tiefer enttäuscht über die
aggressive Ignoranz der westlichen Welt, die sich die
Nahosttragödie wie eine Seifenoper anschaut. In mir aber wächst
Furcht, denn das nahöstliche Israel ist der bedrohteste Teil der
fernwestlichen Zivilisation.
In diesem historischen Trauerspiel nämlich kann es kein Happy-
End geben. Wir wissen doch alle seit Sophokles, daß in einer echten
Tragödie immer alle widerstreitenden Parteien aus ihrer Position
recht haben und daß die Personae dramatis deshalb nur
entscheiden können, ob sie diesen oder lieber einen anderen
Fehler machen. Falsch ist alles! Ja, heillos ist in dieser tragischen
Konstellation jedes Tun und Lassen. Und jeder Weg führt in die
Katastrophe. Den Gaza-Streifen besetzen ist falsch, den Gaza-
Streifen räumen ist falsch. In Deutschland lieben es die
Meinungsmacher, den Zaun, mit dem sich Israel schützt, in
Erinnerung an das geteilte Deutschland gehässig eine Mauer zu
nennen. Ich lebte lange genug hinter der Berliner Mauer und weiß,
wie zynisch diese Gleichsetzung ist. Dennoch bleibt das Dilemma:
Diesen Zaun zu bauen ist falsch, aber den Zaun nicht zu bauen ist -
vermute ich - noch falscher.
In Deutschland sage ich klipp und klar: Die ungeduldigen Zuschauer
müssen endlich kapieren, daß es keine Lösung gibt für den Konflikt
zwischen Juden und Arabern. Hier in Israel sage ich das Gegenteil:
Die verzweifelten Israelis müssen einsehen, daß es doch Lösungen
gibt. Warum? Weil es sie geben muß.
Der Staat Israel hatte in Deutschland schon eine bessere Presse.
Drei Jahrzehnte nach dem Holocaust hatten die Deutschen dem
jüdischen Volk schon fast verziehen, was sie ihm angetan haben.
Doch nun werden die Täter mehr und mehr ungnädig angesichts
dieses heillosen Dauerkonflikts ihrer Opfer. Immer wieder höre ich
das kalt-herzliche Argument: Diese Juden müßten doch während
der Nazizeit am eigenen Leibe gelernt haben, was Unterdrückung
ist. Na eben drum! halte ich dann heiß-herzlos dagegen, die
Überlebenden haben die Schoah-Lektion gelernt und wollen sich
niemals wieder abschlachten lassen.
Die simpleren Durchschnittsdeutschen ergreifen Partei für die
Araber. Es wird wieder der Refrain des alten Liedes geschwiegen,
geknurrt und geplärrt: Die Juden sind an allem schuld! Und auf den
reflexhaften Vorwurf des Antisemitismus antworten unsere
modernen Judenhasser cool: »Man wird Freunde doch kritisieren
dürfen!« Mit dem scharfen Auge starren die Deutschen auf die
Juden in Israel, mit dem triefenden Auge glotzen sie auf die Araber
in Palästina. Das romantische Verständnis der Deutschen für die
Islamisten im Nahostkonflikt hat aber Gründe. Sie halten Araber für
affige Wilde, für unmündige Menschen dritter Klasse, an die man
noch keine aufklärerisch-humanen Maßstäbe anlegen darf. Die
Zuneigung der Deutschen ist eine Art von vormundschaftlicher
Verachtung. Der schwärmerische Respekt vor dem
Fremdländischen ist nur Bequemlichkeit und Hochmut. Ich sehe im
Multi-Kulti-Geschwärme meiner alternativen Zeitgenossen die
seitenverkehrte Version des Rassendünkels von gestern.
Wenn die Zahlmeister der EU regelmäßig Alimente an die
Palästinenser überweisen, dann wollen sie es nicht wahrhaben, daß
sich im Gaza-Streifen die abgeklärten Massenmörder der Fatah mit
den fanatischen Massenmördern der Hamas eigentlich nur über den
Weg zur Endlösung der Judenfrage streiten, denn im Grunde sind
sie alle einer Meinung: Israel muß vernichtet werden!
Leider trägt es zur Aufklärung bisher wenig bei, wenn in großen
Zeitungen sogar die skandalöse Hamas-Charta abgedruckt
wird: »Israel wird aufsteigen, bis der Islam es vernichtet, so wie er
seine Vorgänger vernichtet hat. Dank der Ausbreitung der
Moslems über die ganze Welt, die die Sache von Hamas verfolgen,
ist die Bewegung eine universelle. Wer ihren Wert anzweifelt
oder es vermeidet, sie zu unterstützen, oder so blind ist, ihre Rolle
zu leugnen, fordert das Schicksal heraus. Der Prophet, Segen und
Friede sei mit ihm, hat gesagt: Der jüngste Tag wird nicht kommen,
bevor nicht die Moslems gegen die Juden kämpfen (und die Juden
töten) und der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verbirgt. Die
Steine und Bäume werden sagen: Oh Moslem! da versteckt sich ein
Jude hinter mir, komm, töte ihn! Friedensinitiativen laufen
allesamt den Überzeugungen der Hamas zuwider.«
Der Slogan »Die Juden sind an allem schuld« ist offenbar so
unausrottbar wie das dumme Vorurteil, daß alle Juden besonders
intelligent sind. Die Juden waren und bleiben auch nach Meinung
des gebildeten Elite-Packs an allem schuld. Schuld sind die Juden
am Amoklauf der bombenumgürteten Selbstmordmörder der Hamas
und der Hisbollah. Die jüdischen Neo-Cons in New York haben den
bigotten Simpel George W. Bush in den Krieg gegen den Diktator
Saddam Hussein getrieben. Die Juden sind durch ihre globale
Machtpolitik schuld an der Atombombenproduktion Irans. Der
Geldjude treibt im Börsengeschäft mit Hilfe des Internationalen
Währungsfonds (IWF) die armen Länder immer tiefer in die
Schuldenfalle. Diese Idioten-Logik gilt auch für gebildete
Schwachköpfe, die jüdischen Kriegsgewinnlern die Schuld dafür
geben, daß die deutschen Steuerzahler jetzt teure Kriegsschiffe in
den Libanon schicken müssen. Die überchochmetzte Variante: Wir
müssen die Juden schützen vor den Juden.
Journalistische Ausgewogenheitder Berichterstattung über den
Nahostkonflikt ist für das populäre deutsche Wochenmagazin stern
nur noch ein Feigenblatt in Fingernagelgröße. Und das
wirkungsmächtigste Blatt des Westens, der Spiegel, beugt sich der
antiisraelischen Stimmung in Deutschland und bestärkt sie zugleich
im Tonfall augenzwinkernder Ausgewogenheit. Auch die meisten
Nachrichten im Radio, die verschiedenen Fernsehsender fast alle
singen mit falscher Stimme und echtem Gefühl, so wie das deutsche
Harfenmädchen in Heines Wintermärchen.
Währenddessen brennt Israel unter dem Raketenhimmel. Die Juden
sitzen wieder in den Bunkern, fliehen von Norden nach Süden. Aber
das Land ist klein. Die arabischen Raketen fliegen immer weiter und
treffen immer genauer. Der Libanon brennt unter dem
Bombenhimmel der blindverzweifelten Super-Militärmacht Israel.
Standardkommentar der Deutschen: »Und das alles nur wegen zwei
entführter Soldaten!« Wie früher in den Weisen von Zion die Juden
als Christenkinderfresser, so werden heute die Israelis als
Kinderschlächter dargestellt, die eine christlich-moslemische
Zivilisation in die Steinzeit zurückbomben wollen. In Wirklichkeit
aber sind es Araber, die Israel ausrotten und im nächsten Schritt
die gesamte westliche Zivilisation vernichten wollen.
Mein alter Freund, der Historiker des Jüdischen Widerstands, Arno
Lustiger sagte mir: Wenn die Araber die Waffen endlich
niederlegen, wird es keinen Krieg mehr geben. Aber wenn Israel
die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben.
Jedes tote arabische Kind ist ein kleiner Sieg im Medienkrieg. Der
Anführer der Hisbollah predigt im Libanon mit seiner sanften
Stimme, daß arabische Bürger des Staates Israel, die gelegentlich
von den Raketen der Hisbollah getötet werden, froh sein sollen,
denn sie werden als Märtyrer in Allahs Paradies eingehn. Und der
durchgeknallte Führer des Iran, der das Gemetzel finanziert,
schreibt die Reden von Goebbels und Hitler ab, schülerhaft
wortwörtlich. Alle Welt rechnet damit: Der Iran wird bald seine
Atombombe haben und die Trägerraken als fliegende
Perserteppiche dazu. Ahmadineschad drohte: Wir werden den Juden
einen Gefallen tun und ihre Auschwitz-Lüge in eine Wahrheit
verwandeln, denn wir werden die Endlösung der Judenfrage
verwirklichen.
All diese Informationen sind in deutschen Massenmedien präsent,
aber es kratzt die Masse der Bevölkerung nicht. Der Chef des Iran
machte der staunenden Menschheit eine makabere Rechnung auf:
Wenn bei einem atomaren Krieg eine Atombombe auf Israel falle,
seien endlich alle 5 Millionen Juden auf einen Schlag tot. Wenn aber
Israel kurz vorher noch die Raketen für den Gegenschlag abfeuere,
werden vielleicht 15 Millionen Araber sterben was tut das! Dann
haben wir eben 15 Millionen Märtyrer mehr im Himmel, aber auf der
Erde bleiben über eine Milliarde Moslems am Leben, um die Welt zu
erobern. Auch den Deutschen sind diese Fakten bekannt, und
trotzdem stecken sie den Kopf in den Sand, sie kuschen vor
radikalen Moslems mit vorauseilender Feigheit. Sie wollen sich
durch Wohlverhalten die Exportmärkte erhalten, die
Rohstoffquellen sichern und sich die Terroristen im eigenen Lande
vom Halse halten. Es gibt in Deutschland einen spöttischen Spruch
über den Schutzpatron der Feuerwehr: »O heiliger Sankt Florian! /
verschon mein Haus, zünd andre an!«
Ist es Ihnen ärgerlich aufgestoßen? Ich sage ungeniert DIE
Amerikaner, DIE Juden, spreche von DEN Arabern, DEN Israelis. Ich
sage auch DIE Deutschen! Kein Besserwisser muß mir erklären, daß
es sehr verschiedene Deutsche, Juden, Araber, Israelis und
Amerikaner gibt.
Was mich anwidert, das ist die großmäulige Besserwisserei der
Wenigwisser in Europa gegenüber dem Nahostkonflikt. Die
gröberen Deutschen habe ich geschildert. Die feineren Deutschen
sind moderater. Sie halten sich bedeckt mit schmallippiger
Äquidistanz. Sie sagen: Juden und Araber sind gleich schuld! Die
Streithähne sollen sich endlich vertragen! Politische Schöngeister
werfen sich in die ironische Pose der schönen Donna Blanca aus
Heines berühmtem Gedicht Religionsdisput, wo am Ende der
Maulschlacht zwischen Rabbi und Pfaffe die junge Königin in der
Loge sitzt. Der König hat schon die Schnauze voll von dem
Wortegemetzel der gottvergifteten Eiferer und fragt seine Frau:
Wer von beiden hat denn nun gesiegt? Was sie ihm antwortet, ist
zum geflügelten Wort geworden: »Welcher Recht hat, weiß ich
nicht / Doch es will mich schier bedünken / Daß der Rabbi und der
Mönch, / Daß sie alle beide stinken.
Ja, jeder Krieg stinkt. Böse sind auch die Krieger aufseiten der
Guten. Unrecht tun auch die Kämpfer, die ihre Freiheit verteidigen.
Es brüllen auch die Gerechten, wenn sie blindwütig um ihr
Überleben kämpfen. Doch immer mehr Kommentatoren erklären,
daß in Nahost kein Rassen-, kein Klassen- und kein Religionskrieg
tobt, sondern ein Krieg der Kulturen. Die Welt des Islam scheint
heute gegen die Werte des Abendlandes zu stehen. Ich aber sehe in
diesem Konflikt zweier angeblich nicht kompatibler Kulturen ein
Scheinproblem. Für mich gehören auch die Millionen Moslems zur
sogenannten Zivilisation. Es sind die Nachfahren einer
altehrwürdigen geistigen Tradition. Geniale Baumeister, göttliche
Handwerker, begnadete Dichter, weise Philosophen. Es sind die
Nachgeborenen von Abrahams Sohn Ismael, die schon den Lauf der
Sterne berechneten, als wir in den Wäldern Germaniens noch auf
der Bärenhaut schnarchten.
Und schon gar nicht kann ich ein Feind der unterdrückten
arabischen Völker sein, die heute in totalitären Militärdiktaturen
verblöden, in gotteslästerlichen Gottesstaaten verkommen. Sogar
die fanatisierten Intifada-Kids und ihre todtraurig-jubelnden
Heldenmütter und all die analphabetischen Männer, wie sie im
Westjordanland für jeden falschen Märtyrer Freudentänze machen,
kann ich nicht so einfach aus meiner Menschheit ausschließen. Aber
die Palästinenser werden von ihren arabischen Brüdern selbst aus
der Menschheit ausgeschlossen und vorgeschickt in einen tödlichen
Kampf. Die riesigen reichen arabischen Länder rund um Israel mit
ihren gewaltigen Ressourcen an fruchtbarem Land und
Bodenschätzen und alter Hochkultur sollten ihre Ölmilliarden
investieren, um diesen Elendsten ein friedliches Leben zu
ermöglichen.
Denn es hilft gegen Gewalt außer Gewalt auch Gewaltlosigkeit. Ja,
es hilft auch Gerechtigkeit, es helfen Liebe und Güte, womöglich
Bildung, Verzeihen und selbstkritische Demut. Aber das bleibt für
mich das humane Drama: Ohne entschlossene Gewalt gegen bis an
die Zähne bewaffnete religiöse Fanatiker oder andere
fundamentalistische Menschheitsretter haben wir Menschen nicht
mal die Chance zu einem Streitgespräch über die letzten Dinge
zwischen Himmel und Erde.
Euerem zionistischen Gründungsvater David Ben Gurion wird der
Satz in den Mund gelegt: »Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein
Realist.« Ich stand in der Negev-Wüste im Kibbuz Sede Boker
zusammen mit der israelischen Schriftstellerin Jonath Sened. Sie
hat als kleines Mädchen bei Jizchak Katzenelson in einem Keller im
Warschauer Ghetto Hebräisch gelernt. Sie zeigte mir das
Arbeitszimmerchen eures Staatsgründers. Mir gefällt sein
berühmter Satz. Auch ich glaube an Wunder, denn es ist schon ein
doppeltes Wunder: Erstens, daß es uns Menschen überhaupt gibt.
Und zweitens, daß wir noch immer leben. Ich glaube an das
verzweifelte Lied aus dem Ghetto Wilna im Jahre 1943: »Mir lebn
ejbig;«
Der Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann, geboren 1936
in Hamburg als Sohn eines jüdischen Werftarbeiters, stammt aus
einer Familie von Antifaschisten. Sein Vater war im
Widerstandskampf organisiert und wurde im KZ Auschwitz
ermordet. Biermann hat sich in polemischen Texten immer wieder
mit jüngster deutscher Geschichte auseinander gesetzt. Soeben
erschien im Verlag Hoffmann und Campe sein neuer
Gedichtband »Heimat«. Wir drucken die gekürzte Fassung einer
Rede, die der Autor im Oktober in Israel hielt
DIE ZEIT, 26.10.2006 Nr. 44
Regina Wagner am Jan. 1, 2010, midnight in
Vorträge